Kreativität? Setzen, Sechs!

Appell für eine neue Lernkultur und warum die Lehrkraft zukunftsentscheidend ist

Logik und Zahlen werden in der digitalen Welt mehr und mehr eine Domäne der Computer. Es müssen vielmehr Fähigkeiten wie Kreativität gelehrt werden. Wenn Schule weiterhin relevant bleiben soll, muss sie sich daher noch in diesem Jahrzehnt enorm verändern.

Die Förderung der Kreativität soll in der Schule der Zukunft ein zentraler Punkt sein. Das verändert auch die Rolle der Lehrkraft. Foto: © stock.adobe.com, artesiaID
Autor/in Leonard Sommer Veröffentlicht 17.08.2023

Es ist irgendwann im August 1973: Das Projekt „Community Memory“ geht in Berkeley, Kalifornien, erfolgreich online. Zum ersten Mal in der Geschichte schicken sich Menschen digitale Nachrichten über eine Telefonleitung. Die Idee der sozialen Netzwerke ist geboren. Etwa 30 Jahre hat sich das 2004 gegründete Facebook zu einem der größten Medienkonzerne der Welt entwickelt. 36 Monate floriert die Musik-Tauschbörse Napster noch mit über 80 Millionen Nutzern. Keine sieben Jahre später ist die Community bei null. iTunes und der iPod revolutionieren die Musikindustrie innerhalb von nur einem Jahrzehnt. Bevor beide sang- und klanglos wieder einpacken, um Spotify das Feld zu überlassen. Ende 2022 verbreitet sich ChatGPT. Innerhalb von nur 2 Monaten nutzen 50 Millionen Menschen die frei verfügbare Testversion. Damit gehört die KI von Open AI zu den am schnellsten wachsenden Neuerungen der Technikgeschichte. Unsere Kinder wachsen in einer Zeit auf, die in der Geschichte der Menschheit ohne Zweifel als das bis dato dynamischste Zeitalter des Wandels gilt. Darin unterscheiden sich die Schüler:innen von heute in vielerlei Hinsicht von Generationen vor ihnen: Sie sind mit der digitalen Technologie aufgewachsen, haben von klein auf gelernt, sie zu nutzen, und halten sie für selbstverständlich. Sie kennen eine Welt, die sich von Stunde zu Stunde, von Sekunde zu Sekunde und von Innovation zu Innovation ständig verändert. Es ist schon verrückt: Meine beiden Kinder leben in einer Welt, in der 65 Prozent der heutigen Vorschulkinder in Berufen arbeiten oder Karrieren verfolgen werden, die es heute noch gar nicht gibt. Und wir? Welches Rüstzeug geben wir den beiden mit, um sicher durch diese ebenso aufregende wie unklare Zeit zu navigieren? Wie muss sich Schule verändern, um den neuen Anforderungen von Bildung gerecht zu werden?

Aufgabe der Schule der Zukunft: Förderung von Kreativität

Führende Expert:innen und die Zukunftsforschung sind sich einig: Schüler:innen darin zu bestärken, selbstständig zu lernen, als auch das kreative Potenzial eines jeden Einzelnen in unserer Gesellschaft zu entwickeln, werden die entscheidenden Faktoren für Erfolg in der Zukunft sein. Weltweit aber auch hierzulande beschäftigen sich viele kluge Köpfe und Initiativen mit diesem Thema. Die Stimmen werden von Tag zu Tag lauter: Unsere Schulen müssen schon kurzfristig andere Fähigkeiten stärker in den Vordergrund stellen. Future Skills wie das Denken in großen Zusammenhängen, die Fähigkeit zu konzeptionieren, zu träumen, Visionen zu entwickeln und Verbindungen herzustellen, gelten als essenziell. Sir Ken Robinson, Ph. D., international anerkannte Koryphäe im Bereich der Entwicklung von Bildung, Kreativität und Innovation, bringt das Dillemma in seinem weltbekannten TED-Talk auf den Punkt. Er sagt: „Die Wahrheit ist, dass jeder Mensch große kreative Fähigkeiten hat, aber nicht jeder sie entwickelt. Eines der Probleme besteht darin, dass unsere Schulen den Schülern allzu oft nicht die Möglichkeit geben, ihre natürlichen kreativen Kräfte zu entwickeln. Stattdessen fördern sie Uniformität und Standardisierung. Das Ergebnis ist, dass wir den Menschen ihr kreatives Potenzial entziehen und Arbeitskräfte hervorbringen, die darauf konditioniert sind, Konformität über Kreativität zu stellen.“ (Robinson 2010) Fazit: Das ständige Streben nach Standardisierung und Konformität in unseren Klassenzimmern führt dazu, dass sich Schüler:innen in ihrem späteren Berufsleben eher passiv verhalten. Es ist das Ideal, das Schule und auch das Elternhaus ihnen vermittelt haben. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Vertreter der Wirtschaft darüber klagen, dass Schulund Hochschulabsolventen so wenig auf das Berufsleben vorbereitet sind. Im Zuge von Adobes „Love The Journey“- Kampagne im Oktober 2021 wurden bei einer Studie mehr als 2.500 Studierende im Alter von 18 bis 24 Jahren aus Deutschland zur Berufswahl und den damit verbundenen Herausforderungen befragt. Das Ergebnis ist erschreckend: 82 Prozent der Befragten halten es für wichtig, kreative Inhalte zukünftig verpflichtend in den Lehrplan aufzunehmen (Adobe 2021). Darüber hinaus zeigen die Untersuchungen, dass die meisten Menschen der Meinung sind, dass Kreativität in der Bildung Priorität haben muss. 75 Prozent bevorzugen Kreativität gegenüber dem Abspeichern oder Auswendiglernen von Informationen – ganze 74 Prozent sind der Meinung, dass Zeit für Kreativität viel wichtiger ist als der typische durchstrukturierte Schultag. Gemeinsam mit Jakob Neise von der Kreativagentur PlayTheHype wollte ich herausfinden, welche Gründe Schüler:innen in Deutschland dafür verantwortlich machen, dass Kreativität in der Schule fast keine Chance hat zu überleben. Unsere Umfrage im Januar 2023 unter fast 4.500 Menschen zwischen 14 und 26 Jahren ergab folgendes Ergebnis: 72 Prozent der Befragten geben an, dass das Schulsystem von ihnen vor allem fordere, dass vorgegebene Lösungen geliefert werden. Immerhin 60 Prozent meinen, dass der Zwang, alles richtig zu machen, zu einer Angst vor Fehlern führe. Im Ranking folgen: die fehlende Förderung des Lernens im Team (36 Prozent), die uninspirierenden Klassenzimmer in Schulen (28 Prozent) und der überladene Lehrplan, der keine Zeit für neue Ideen lasse (25 Prozent).

Die Zeit ist reif für eine neue Lernkultur

Internet und Künstliche Intelligenz macht das Beherrschen und Abrufen von Wissen weniger wichtig, ja sogar teilweise überflüssig. Der universelle digitale Zugang zu schriftlich festgehaltenen Informationen bringt mit sich, dass sie so gut wie jedes Kind in Sekunden nachschlagen kann.

Schule wird sich meiner Meinung nach noch in diesem Jahrzehnt dramatisch verändern müssen, um relevant zu bleiben. Von Schulleiter:innen wird verlangt werden, dass sie ihre Fähigkeiten fortlaufend erweitern, dass sie sich zu Architekten und Moderatoren kreativer Lernumgebungen mausern. Sie müssen in der Lage sein, lösungsorientiertes und interdisziplinäres Zusammenarbeiten zu fördern. Sie werden lernen müssen, Talente und Leidenschaften bei ihren Lehrer:innen zu wecken. Ein Lehrender der Zukunft wird sich davon verabschieden müssen, Expert:in für ein bestimmtes Thema zu sein, um sich aufs Wesentliche zu konzentrieren: als begeisternde:r Projektleiter:in und motivierender Coach das Lernen der Schüler:innen zu moderieren.

Aufgabe der Lehrkraft: mehr als nur Wissensvermittlung

New Work – New Learning? Die Rolle der Lehrkaft muss ebenso angepasst werden, wie wir es in den letzten Jahrzehnten bereits in der Wirtschaft in der Veränderung der Kernaufgaben einer modernen Führungskraft erlebt haben. Die Aufgabe der Lehrkraft ist in Zukunft nicht mehr allein darauf beschränkt, Wissen zu vermitteln. Lernende werden in Zukunft auf andere Weise unterstützt: beim Herausfinden, wie und ob das gefundene Wissen der Wahrheit entspricht und ihren Absichten dient. Im Rahmen meiner Reise und vielen Gesprächen mit Kreativen und Bildungsinnovator: innen aus aller Welt erinnere ich mich gerne auch an den Dialog mit dem Designer Paul Moyle (Designer bei Vitamin D, Los Angeles). Er umschreibt eine Evolution der Rolle von Lehrenden wie folgt: „Damit Kinder kreativ sein können, brauchen wir Lehrer, die frei und autonom entscheiden können: Wie gestalte ich Schulstunden so, dass Kinder ihre latente Kreativität ausleben und entfalten können? In gewisser Weise bedeutet dies, das Lernen zu befreien – sowohl Schüler als auch Lehrer brauchen die Freiheit, Sachverhalte und Methoden zu lernen und zu lehren, die für Schüler (und sie selbst) wichtig sind. Die Konzentration auf vereinheitlichte Tests bewirkt das Gegenteil: Schüler wie Lehrer haben weniger Möglichkeiten, mit neuen Ideen und Projekten zu experimentieren. Kreativität lebt und gedeiht aber ‚im Tun und im Handeln’. Das heißt, Schulen müssen ihren Schülern sowohl die Plattform als auch das Umfeld bieten, um etwas zu gestalten – und nicht nur passiv für Prüfungen lernen, die für sie von Bedeutung sein können oder auch nicht.“ (Moyle 2013) Um eine kreative Kultur aufzubauen, werden Future Skills wie Beziehungskompetenz (Einfühlungsvermögen, Intuition, Konfliktbewältigung usw.), Erziehungskompetenz, Gesprächsfähigkeit und andere notwendige organisatorische Fähigkeiten in Zukunft essenziell werden. Die Lehrkraft übernimmt in Zukunft drei zentrale Rollen bei der Förderung dieser Future Skills im Unterricht:

▶ Die Lehrkraft als Wissensvermittler: Sie vermittelt den Unterrichtsstoff spannend und unterhaltsam, damit die Schüler: innen neugierig und engagiert bleiben.

▶ Die Lehrkraft als Workshopleiter: In Zusammenarbeit mit externen Referent: innen agiert sie als Moderator:in und unterstützt die Lernenden bei der Projektentwicklung.

▶ Die Lehrkraft als Talentcoach: Sie hilft den einzelnen Schüler:innen aktiv, ihre Talente und Leidenschaften zu entdecken. In Zusammenarbeit mit externen Referent: innen motiviert sie die Schüler:innen gemeinsam, an ihren Talenten zu arbeiten und Spitzenleistungen in den eigenen Stärken und Interessensgebieten anzustreben.

Die Rolle der Lehrkraft wird sich also in ähnlicher Weise ändern, wie sich Führungskräfte in der Industrie und im Dienstleistungsgewerbe verändert haben. Lehrende des 21. Jahrhunderts werden somit zu kreativen Führungskräften! Ich möchte gemeinsam mit Ihnen ein kleines Experiment durchführen und die Theorie„ Redesigning Leadership“ von John Maeda auf die Rolle der Lehrkraft anwenden. So lässt sich mein Standpunkt besser veranschaulichen und die aus meiner Sicht erforderlichen Veränderungen kompakt aufzeigen (Maeda 2011). Abschließend komme ich zu einer Perspektive, die sie alle nicht überraschen wird: Wir alle verwandeln uns zu lebenslang Lernenden – und egal in welchem Beruf wir tätig sein werden, auch zu Lehrer:innen oder Schüler:innen. Ja, Sie haben richtig gehört. Wir alle werden lebenslang lernen.

Neue Denkpraktiken tragen zur Aufwertung des Kreativen bei

Egal, ob als Eltern, Lehrer:innen, Schulleiter: innen, CEO, Arbeitnehmer:innen oder als Student:innen – die Welt steuert auf eine Lernkultur zu, die folgende Prinzipien mit sich bringen wird – egal in welchem Alter wir als Lehrende:r fungieren. In der Rolle als Vermittler:innen der relevanten Future Skills, sollten wir alle

▶ Lernende unterstützen, ohne Autorität und Kontrolle zu lernen,

▶ den Lernenden zutrauen, dass sie die richtigen Dinge tun,

▶ Gründe für Entscheidungen und Handlungen erläutern,

▶ eine Entscheidungsfindung durch sachkundige Teamleiter:innen ermöglichen,

▶ mit Ambiguität umgehen,

▶ der Versuchung widerstehen, zu viel Struktur zu schaffen, und

▶ viel Zeit investieren, um sicherzustellen, dass das Lernumfeld funktioniert (Slocum 2012). Machen wir es uns also alle gemeinsam zur Aufgabe, als lebenslang Lehrende und Lernende zu vermitteln, dass neue Denkpraktiken zu einer Aufwertung des Kreativen und zu zukünftigen Innovation beitragen. Lassen Sie mich final ins Klassenzimmer zurückkehren. Ab sofort gilt: Sobald einer Ihrer Schüler:innen kreatives Denken entwickelt, wird dies zu seinem entscheidenden Vorteil. Etwas, das ihn bzw. ihr auch außerhalb des Klassenzimmers als innovativen Menschen auszeichnet. Jeder Mensch ist kreativ, und Lernende sollten verstehen, dass kreatives Denken zu ihrem geistigen Eigentum wird. Etwas, das jedes Mal gelobt wird, wenn jemand sagt: „Das ist eine tolle Idee!“

Warum der Lehrerberuf zum wichtigsten Zukunftsberuf wird

In Finnland hat man diese zukunftsentscheidende Rolle schon vor einigen Jahren erkannt. Nicht ohne Grund ist der Beruf des Lehrers als einer der wichtigsten Zukunftsberufe positioniert. Kein Wunder, dass nur 10 Prozent der Bewerber für das Lehramtstudium einen Platz finden. Denn der Lehrerberuf gilt als einer der wichtigsten in der Gesellschaft. Warum? Als Lehrer:in haben Sie die fantastische Möglichkeit, einen Denkprozess nach dem anderen zu fördern und die nächste Generation dazu zu inspirieren, durch Selbsterkenntnis und Kreativität die bestmöglichen Menschen zu werden. Um kreatives Denken zu fördern, vermitteln Sie daher jeden Tag neuen Mut, neugierig und offen für neue Erfahrungen zu sein und auch Unklarheiten zu tolerieren. Lehrende werden so zu Vorbildern einer kreativen Lernkultur der Zukunft.

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