„Wilde sind‘s, Wilde sind‘s! Menschliches vermisst man!“ – So beschreiben sich im Finale des nicht unproblematischen Disney-Klassikers „Pocahontas“ (1995) die indigene Bevölkerung Amerikas und die europäischen Besatzer beim Aufeinandertreffen gegenseitig. In vereinfachter Weise wird hier eine auf beiden Seiten bestehende Skepsis suggeriert, die durch die Fremdartigkeit der anderen Gruppe bedingt ist. Auch im Lateinunterricht lässt sich die Auseinandersetzung mit dem Bild des „barbarischen Fremden“ und des „edlen Wilden“ verorten, das sich in der heutigen Wahrnehmung der indigenen Bevölkerung beider Amerikas hartnäckig hält. Man denke an die Debatten um den Kinderfilm „Der junge Häuptling Winnetou“ und um Karl Mays Darstellung der „Indianer“:
„Rötliches Make-up für weiße Darsteller ist als ‚redfacing‘ verpönt. In einem Kinderfilm noch heute das Volk der Apachen dargestellt zu sehen wie bei einer Kölner Karnevalsfeier, ignoriert alle Bemühungen, die verfälschende Repräsentation aus dem 19. und 20. Jahrhundert nicht über die Generationen weiterzugeben.“ (D. Kothenschulte)1
Fragen, wie wir Fremde(s) wahrnehmen und damit umgehen, sind weiterhin aktuell und betreffen die Lebenswelt der Schüler:innen direkt. Unter anderem hierin liegt das Motivationspotenzial der vorgestellten Unterrichtssequenz.2
Drei Texte aus dem frühen und mittleren 16. Jh. bieten einen Blick auf den Umgang mit dem Fremden, der noch heute nachwirkt: die Reiseberichte in Briefform von Christoph Kolumbus und Amerigo Vespucci sowie ein Ausschnitt aus dem Geschichtswerk De rebus hispanorum gestis ad novum orbem Mexicumque von Juan Ginés de Sepúlveda über die Geschichte Amerikas und das Vorgehen der Spanier dort. Die Darstellung der indigenen Bevölkerung bei Kolumbus ist der Beginn eines kolonialen Diskurses, der zwei Varianten enthält, nämlich die des „edlen Wilden“ und die des „wilden Barbaren“.3 Beide Stränge, die in der Renaissance und in der Aufklärung theoretisch breit diskutiert und u. a. in Karl Mays Werken literarisch verarbeitet wurden, wirken bis heute. Vespucci folgt Kolumbus in der Dichotomie „edel“ vs. „wild“, wobei beide Autoren die Bevölkerung nie als „Wilde“ oder „Barbaren“ bezeichnen, und erweitert das Bild durch die relativ ausführlich gestaltete Beschreibung von Kannibalismus, mit der er die Wahrnehmung der Menschen der „neuen Welt“ erheblich prägt. Sepúlveda hingegen positioniert sich eindeutig: Die „Indianer“ werden als barbarische Wilde gezeichnet, die aufgrund falscher Moralvorstellungen und Kultpraktiken zurecht unterworfen und missioniert werden müssen, während der spanische Eroberer Hernán Cortés, auf dessen Berichte Sepúlveda sich stützt, glorifiziert wird.4
Das besondere Potenzial der Lektüre dieser drei Autoren zur historischen Kommunikation liegt darin, dass sowohl antike5 als auch frühneuzeitliche sowie heutige Denkmodelle mit ihrer Hilfe reflektiert werden können.6 Zudem werden die Schüler:innen zur Reflexion ihrer persönlichen Haltungen eingeladen, indem sie z. B. ihre eigenen Vorstellungen zum Umgang mit „Andersartigkeit“ mit Sepúlvedas klar formulierter Position kontrastieren.
Grundlegendes
Die hier vorgestellte Unterrichtssequenz ist für die Phase der Übergangslektüre im dritten oder vierten Lernjahr konzipiert.…