Das „alte“ europäische Staatensystem lag nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Herbst 1918 in Trümmern. Der Krieg hatte die Vormachtstellung Europas in der Weltpolitik und Weltwirtschaft beendet. Das europäische Mächtesystem der Nach- und Zwischenkriegszeit wurde maßgeblich durch den Verlauf, die Ergebnisse und die Folgewirkungen der Pariser Friedensverträge (1919/20) geprägt.
Sachanalyse
Vor allem in Frankreich wurden die politischen Überlegungen und Aktivitäten zunächst vom Bestreben beherrscht, gegenüber dem Nachbarn Deutschland ein Maximum an Sicherheit zu behaupten (Kolb/Schumann 2013, S. 57 f.). Da die deutschen Bemühungen um eine Revision des Friedensvertrages, das Hauptziel der damaligen Außenpolitik, nur Aussicht auf Erfolg hatten, wenn das französische Sicherheitsbedürfnis befriedigt wurde, musste die deutsch-französische Zusammenarbeit bejaht und intensiviert werden. Auch in Frankreich trat allmählich ein solches Bewusstsein ein, sodass sich die zwischenstaatlichen Beziehungen innerhalb Europas in relativ kurzer Zeit intensivierten.
Als federführend in den europäischen Verständigungsbestrebungen der 1920er-Jahre erwiesen sich vor allem die Außenminister beider Länder, Aristide Briand (1925 – 1929) und Gustav Stresemann (1923 – 1929). Beide vertraten die Haltung, dass eine europäische Einigung notwendig sei, um den Frieden und die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in Europa zu sichern. Beide Politiker traten für eine stabile europäische Ordnung ein, Briand gar „auf institutionalisierter, den engeren Zusammenschluß der europäischen Staaten ermöglichender Basis“ (Krüger 2002, S. 59), was sein Europaplan von 1929/30 verdeutlicht. Mit Briands Rede vor der Völkerbundversammlung in Genf am 5. September 1929 wurde der Aufbau einer föderalen „europäischen Union“ zum ersten Mal Gegenstand offizieller Verhandlungen zwischen den Regierungen. Briand sprach sich dafür aus, dass zwischen den europäischen Völkern „eine Art föderatives Band“ bestehen müsse, um Solidarität und Zusammenarbeit als Ausgleich zur nati-onalen Zerstückelung zu schaffen. Die „Antwort“ Stresemanns auf diese Rede über die notwendige Einigung Europas beruhte auf einer etwas anderen Konzeption: der stärkeren wirtschaftlichen Zusammenfassung Europas.
Nach seiner Rede wurde Briand mit der Ausarbeitung einer Denkschrift über seine Einigungsidee beauftragt, die schließlich am 1. Mai 1930 vorgelegt wurde. Dieses „Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung“ präsentierte in vier Abschnitten einen ausführlichen Organisationsplan sowie einen Katalog von Zielen und Aufgaben einer „Föderalen Europäischen Union“. Die Reaktionen auf den Europaplan Briands fielen in den meisten europäischen Staaten ablehnend aus. In Deutschland wurde das Memorandum von offizieller Seite als weiteres Instrument zur „Erhaltung der französischen Hegemonialstellung“ mit dem vermeintlichen Zweck, Deutschland „neue Fesseln anzulegen“, angesehen. Die ablehnenden offiziellen Antworten waren insgesamt im Geiste einer „nationalen Opposition“ formuliert, was eine Abkehr von der durch Briand initiierten Verständigungspolitik bedeutete. Die größte Sorge betraf vor allem die Schwächung der eigenen Position, da viele Staaten im Zuge einer schnellen Integration langfristig eine politische Schwächung und wirtschaftliche Unterlegenheit des eigenen Landes befürchteten.
Die Idee der Souveränität der Nationalstaaten erlebte durch dieses Gefühl der Bedrohung neuen Auftrieb und der mögliche Statusverlust vertiefte die Gräben zwischen den Staaten (Leiße 2009, S. 24). In den meisten europäischen Ländern erfolgte daher eine Neubestimmung der außenpolitischen…