Erinnerung – was ist das?

Eine philosophisch-ethische Betrachtung

Erinnerung ist von grundlegender Bedeutung für die Identität und das Leben einer Person. Sie findet individuell bezogen auf die eigene Vergangenheit – oder kollektiv auf das gesellschaftliche Gedächtnis – auf positive wie negative Erlebnisse statt. Was prägt den Vorgang des Erinnerns? Welche ethischen wie bilanzierenden Kriterien liegen dem zugrunde? Dieser Beitrag lädt zu einer besonderen Reise in die Vergangenheit ein.

Auf den Spuren der Erinnerung
Auf den Spuren der Erinnerung , Foto © Nordreisender | stock.adobe.com

aus: pflegen Palliativ Nr. 50 / 2021

Erinnern

  • Fachwissen
  • Schuljahr
Thema Qualifizierung, Organisation & Management Autor/in Martin W. Schnell Veröffentlicht 26.05.2021 Aktualisiert 25.08.2022

Martin W. Schnell

Eine philosophisch-ethische Betrachtung

Erinnerung ist von grundlegender Bedeutung für die Identität und das Leben einer Person. Sie findet individuell bezogen auf die eigene Vergangenheit oder kollektiv auf das gesellschaftliche Gedächtnis auf positive wie negative Erlebnisse statt. Was prägt den Vorgang des Erinnerns? Welche ethischen wie bilanzierenden Kriterien liegen dem zugrunde? Dieser Beitrag lädt zu einer besonderen Reise in die Vergangenheit ein.

Der Philosoph John Locke sagt, dass die Identität einer Person gleichbedeutend mit ihrer Erinnerung an die eigene Vergangenheit ist. In der Demenzpflege wird daher mithilfe von Fotoalben Biografiearbeit betrieben, um die Identität einer Person angesichts schwindender Geisteskräfte möglichst lange zu erhalten.
Das Erinnern hat grundsätzlich zwei sich miteinander verschränkende Aspekte:
Erinnern als Suchen und als Finden
Das persönliche Erinnern bezieht sich auf Begebenheiten, denen ich selbst einmal beigewohnt habe. Es kann sich als aktives Suchen oder als passives Finden ereignen. Aktiv suchen wir Namen, Gegenstände, Daten, Orte oder Symbole, die uns momentan nicht gegenwärtig sind und von denen wir wissen, dass wir sie vergessen haben. Das passive Finden bezieht sich auf Ereignisse, die quasi unvergesslich sind, und das nicht nur für eine einzelne Person, sondern für ein gesamtes Gemeinwesen.
Erinnern als Bewahren
Das kollektive Erinnern beinhaltet Begebenheiten, die für eine Gesellschaft wichtig sind und die daher im kollektiven Gedächtnis, z.B. im Rahmen von Ausstellungen, bewahrt werden sollen. Die Erklärung der Menschenrechte, das Ende des Krieges, der Fall der Berliner Mauer können nicht vergessen werden, weil sie als fundamentale Ereignisse Grundlagen für heutiges Leben bilden. Ebenso kann sich eine Person, die das Schwimmen erlernt hat, sich nicht wieder in den Zustand des Nichtschwimmers zurückversetzen.
Persönliches Erinnern findet auch im Rahmen gesellschaftlichen Erinnerns statt. Der Kalender ist die Klammer, die beide Arten der Erinnerung miteinander verflicht, indem er sie an ein Datum knüpft. Der 1. Mai ist für alle Menschen wichtig, deren Geburtstag er ist, und er ist zugleich in den Industrienationen der Tag der Arbeit.
Eine besondere Bedeutung kommt dem Erinnern von Traumata zu (siehe Kasten1).
1 | Exkurs: Trauma als schweres Erinnern
1 | Exkurs: Trauma als schweres Erinnern
Ein Trauma ist ein schwerwiegendes Ereignis individueller oder kollektiver Natur. Vergewaltigung, Mord, Krieg sind derartige Ereignisse. Es zeichnet sich durch eine eigentümliche zeitliche Struktur aus. Es ist eine Verletzung/Wunde, die in der Vergangenheit zugefügt worden ist und die häufig erst nachträglich durch ein Schlüsselereignis als Erschütterung durchlebt wird. Sigmund Freud sagt dazu: „Die gegenwärtige Situation erinnert mich an eines der früher erfahrenen traumatischen Erlebnisse (Freud, 1987: 76).
Klinisch spricht man davon, dass sogenannte Trigger als Auslöser fungieren können. Etwa das Geräusch eines Silvesterknallers kann bei einem Menschen, der einen Bombenangriff miterlebt hat, panische Angst auslösen. An das eigentliche traumatische Ereignis erinnert er sich jedoch willentlich nicht, da es sich um eine schwere und abgespaltene Verletzung handelt. Traumatische Erinnerungen könnten als ein schweres Erinnern verstanden werden, das Leid und Schmerz bringt; das anzeigt, dass etwas droht, namenlos vergessen zu werden als ein dem Vergessen Entreißen. Diese Bewegung und die mit ihr verbundene Bearbeitung des Traumas werden häufig mit…
pflegen+ Demenz & Palliativ

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