Das Geld gehört direkt an die Schulen

DigitalPakt: Expert:innen benennen die Fehler und was verbessert werden muss

Mit dem DigitalPakt wurde versucht, Schulen die Anschaffung einer umfassenden digitalen Ausstattung zu ermöglichen. Neben dem hohen organisatorischen Aufwand, Medienentwicklungspläne und pädagogische Medienkonzepte zu generieren, stellen externe Einflussfaktoren wie die Abhängigkeit einzelner Schulen von kommunalen Schulträgern oder Ländern ein zentrales Problem dar, das viele Schulen als herausfordernd empfinden.

Für die Digitalisierung der Schulen stellt der DigitalPakt Milliarden Euro bereit, doch etliche Hürden hemmen die zügige Verwendung der Gelder © stock.adobe.com, Fokussiert
Thema Schulentwicklung & Medienausstattung Veröffentlicht 04.11.2022

Nun plant die Ampelkoalition den DigitalPakt 2.0 und die zentrale Frage lautet: Was hat der Digitalpakt bisher bewirkt und was kann und vor allem was muss beim DigitalPakt 2.0 besser laufen? Un­ser Redaktionsleiter Micha Pallesche sprach hierzu mit ausgewählten Expert:innen.

Die genannten Gründe werden in der Studie „Umsetzung des DigitalPakts Schule – Wirkungsweisen und Problemlagen” der Universität Hildesheim (Rohde, Wrase 2022) aufgeführt. Auch deshalb wurden von den zur Verfügung stehenden 6,5 Milliarden Euro (inklusive Coronahilfen I bis III) lediglich die Hälfte geplant und nur ca. ein Fünftel der Gelder ausgegeben (Stand 4. März 2022, BMBF 2022). Bildung+ fragt dazu vier Expert:innen aus den Bereichen Schule, Bildungsforschung, Medienzentren und aus Estland, einem Land, das weltweit in Sachen Digitalisierung eine Vorreiterrolle einnimmt.
Jörg Schumacher leitete seit vielenJahren das Stadtmedienzentrum in Karlsruhe und ist mitverantwortlich für das Konzeptpapier „Medienmoderne Schule - IT-Schulstadt Karlsruhe“, das bereits 2018 den Umsetzungsrahmen für den DigitalPakt der Stadt Karlsruhe darstellte. Silke Müller leitet die Waldschule Hatten, eine „Smart School“, die deutschlandweit eine der Vorzeigeschulen in den Bereichen Digitalisierung und digitale Ethik ist.
Prof. Dr. Frank Thissen ist Hochschullehrer an der Hochschule der Medien in Stuttgart, der neben seiner forschenden Tätigkeit vor allem im Kontext Schule zahlreiche Medien- und Tabletprojekte begleitete, aber auch das Thema Schulbau im Blick hat. Dr. Til Assman, Honorarkonsul der Republik Estland in Bremen und Niedersachsen, der als Speaker und Referent gerne aus den Erfahrungen in Estland berichtet.

„Ein Meisterwerk des deutschen Amtsschimmels“

Haben wir in Deutschland mit dem DigitalPakt der Schulen die Weichen gestellt?
Jörg Schumacher: Der DigitalPakt 1.0 ist lediglich ein Start in die richtige Richtung. Hier geht es um erste pädagogische und methodische Überlegungen für den Einsatz digitaler Technologien im Unterricht (Medien­entwicklungspläne). Diese sollten als erste Arbeitshypothesen betrachtet werden, die anschließend Schritt für Schritt ggfs. verworfen, erweitert und weiterentwickelt werden.
Ich gehe davon aus, dass die Verwendung digitaler und mobiler Technologien im Unterricht das schulische Lernen gänzlich verändern und schließlich zu einer neuen Form der Schule als Lernumgebung führen wird.

Voraussetzungen hierfür sind natürlich eine primäre digitale Infrastruktur und neue Service­leistungen für die „digitale Schule“.

Silke Müller: Ich glaube, wir müssen den DigitalPakt aus zweierlei Sichtweisen bewerten. Einerseits war das damalige Signal, Digitalisierungsprozesse zu fördern und anzuschieben sicher gut und richtig.
Andererseits aber sind die bürokratischen Bedingungen, die an das Abrufen der Gelder geknüpft sind, chancenungleich und ehrlich gesagt nicht praktikabel gedacht. Quasi charmant ausgedrückt: ein Meisterwerk des deutschen Amtsschimmels.
Ein Beispiel: Schulträger, die mehrere Schulen betreuen und sich dafür entscheiden, jede Schule gleich auszustatten, weil eine Ausschreibung und das Handling der Prozesse so planbarer und steuerbarer wird, statten möglicherweise Schulen für das altbekannte Pressefoto aus, verlieren aber ggf. diejenigen, die mit dieser Ausstattung arbeiten müssen, also Lehrkräfte und Schulleitungen. Ein Individualitätsanspruch besteht hier oft nicht, während kleine Schulträger, wie zum Beispiel die Gemeinde Hatten, als unser Träger im stetigen Austausch mit uns steht und gemäß unserer Bedürfnisse und in Sicht auf die gemeinsame Entwicklungsarbeit ausschreibt.

Die Förderrichtlinien sind dazu derart kompliziert und einengend, dass sie teilweise nicht zu den tatsächlichen Ansprüchen passen, die wir Praktiker an zeitgemäße Bildung stellen. Lizensierung, Administration, Wartung, Kreativität – all das wird nicht genügend berücksichtig im DigitalPakt. Zudem hängt die Agilität in den Prozessen oft an einzelnen Akteur:innen in der Verwaltung.

Til Assmann: Wir haben lediglich die allernötigste Grundvoraussetzung durch Finanzmittel geschaffen. Aber den Schulen im Durchschnitt 120.000 Euro zu geben und zu glauben, dass wir durch die mögliche Anschaffung von zum Beispiel rund 240 Tablets pro Schule die deutsche Bildung wirklich nach vorne bringen, ist ziemlich unrealistisch.
Womit sollen Ausbildung der Lehrkräfte und Wartung der Geräte bezahlt werden? Wo sind die digitalen Lehrmittel, die damit benutzt werden können und sinnvollen digitalen Unterricht ermöglichen?

Zudem sind seit 2019, also seit drei Jahren, nur rund 20 Prozent überhaupt abgerufen bzw. ausgezahlt worden, weil die bürokratischen Hürden und der Aufwand so hoch sind. Das ist bei dem Bedarf, den wir haben, an sich ein Skandal oder beschämend.
Das wäre vergleichsweise so, als wenn der Staat der Schule die Maschinen für den Bau eines Hauses auf deren Bauplatz abstellt, diese aber erst einmal Anträge zur Nutzung der Maschinen stellen müssten und eigentlich auch gar nicht wissen, welche Baumaterialien sie mit den Maschinen wie nutzen sollen. 

Frank Thissen: Weichen haben wir auf jeden Fall gestellt. Allerdings ist die große Frage, ob dies ausreicht. Nach meiner Ansicht geht es darum, Schulen für das 21. Jahrhundert neu zu denken, damit sie ihre Schüler:innen auf ein gelingendes Leben in einer sehr komplexen, vernetzten und durch digitale Technologien geprägten Welt vorbereiten können. Es geht also um das, was als die 21st Century Skills bezeichnet wird, und dies sind andere Kompetenzen als die für das Industriezeitalter.
 

Kritisiert die aus seiner Sicht in vielen Bereichen immer noch sehr traditionell aufgestellte Lehrer:innenausbildung: Prof. Dr. Frank Thissen von der Hochschule der Medien in Stuttgart

Von der Digitalisierung zur digitalen Lernkultur – so sieht Jörg Schumacher, ehemaliger Leiter des Stadtmedienzentrums in Karlsruhe, den Sprung vom DigitalPakt 1.0 auf 2.0

Anstelle der Diskussion um einen DigitalPakt 2.0 hätte Silke Müller, Leiterin der Waldschule Hatten, lieber eine Entfristung der Gelder aus dem DigitalPakt 1.0

Estland könne Vorbild für die Entschlackung und Reduzierung der Entscheidungsebenen in Deutschland sein, meint Dr. Til Assmann, Honorarkonsul der Republik Estland in Bremen und Niedersachsen

In dieser Hinsicht ist der DigitalPakt erst der Anfang, dem noch viele Veränderungen folgen müssen. Schulentwicklung lässt sich auch nicht mehr für längere Zeiträume definieren, sondern kann nur als permanenter Prozess der Anpassung an immer neue Herausforderungen verstanden werden.
Nun klangen bereits einige kritische Töne bezüglich des DigitalPakts an. Was ist Ihrer Meinung nach der größte Hemmschuh? Weshalb tun wir uns in Deutschland so schwer bei der Digitalisierung von Schulen?
Til Assmann: Der Hemmschuh besteht aus einem ganzen Paket miteinander verschnürter Schuhe: dem Föderalismus, der Bürokratie, dem oft als Wichtigstes deklarierte Datenschutz und der „German Angst“ vor den digitalen Möglichkeiten.
Jörg Schumacher: Über zwanzig Jahre habe ich mich mit Fragen der Technologieentwicklung und deren Veränderungspotenzial für die Möglichkeiten des (schulischen) Lernens aktiv auseinandergesetzt. Rückblickend ging es mir gemessen am Potenzial der digitalen Technologien für das Lernen immer viel zu langsam voran. Zusammenfassend möchte ich folgende Punkte als wichtigste Hemmschuhe für die Digitalisierung von Schulen sehen:
► Das Festhalten an alten Schulkonzepten und die Mutlosigkeit bzgl. der Formulierung einer positiv besetzten Utopie, einer Vision für die Schule der Zukunft.
► Darüber hinaus scheint auch das alte Bild der Schule und des Lehrenden zu sehr in allen Köpfen verankert zu sein.
► Föderalismus/Bildungsföderalismus
: Dezentralisierung ist in vielen Fällen von Vorteil, da sie prinzipiell Systemen erlaubt, flexibler auf Veränderungen, auf Herausforderungen zu reagieren. Im Falle großer, alle betreffende Paradigmenwechsel – wie die Digitalisierung der Welt und auch der Schulen – sind sie jedoch von Nachteil, da die Beharrungskräfte, Reibungsverluste und vielleicht auch die Eitelkeiten einzelner Akteure bremsend wirken.
► Formalismus – die Latte wurde etwa in Baden-Württemberg viel zu hoch gelegt.

Die Ausstattung mit digitalen Hilfsmitteln ist nur ein Teil zukunftsfähiger Schulen. Es geht auch um eine digitale Ethik.

Der DigitalPakt des Bundes war klar formuliert und an Bedingungen geknüpft, zu deren Einhaltung alle Bundesländer verpflichtet waren. Jedoch gab es Handlungsspielräume für die Ausgestaltung und Durchführung des DigitalPakts in den Ländern. So wurden in allen Bundesländern eigene Verfahren entwickelt, die subjektiv betrachtet im Süden komplizierter und aufwendiger gestaltet waren als im Norden und Osten der Republik.
Silke Müller: Bei der Digitalisierung setzen wir meines Erachtens verkehrte Schwerpunkte. Wir kümmern uns um Technologisierung, um App-Anwendungen, Browserprogramme, digitale Arbeitsmethoden, Tools für kreatives und kollaboratives Arbeiten. Dabei haben wir die Basis nicht gesetzt. Seit mehr als 10 Jahren entwickeln sich soziale Netzwerke nicht nur als Lebensmittelpunkt für uns selbst, sondern auch für die Gesellschaft. Algorithmen und KI können sicher grandios für Technik und Wissenschaft dienen, genauso aber auch manipulieren und negativ beeinflussen. Hass, Hetze, Brutalität, Intoleranz und Respektlosigkeit sind an der Tagesordnung. Selbstdarstellung auf diversen Profilen gehört auch für unsere Generation zum guten Ton.
Wir haben es in meinen Augen ignorant verpasst, die Entwicklung der Kommunikation und des Zusammenlebens im Netz mit einer zunehmenden Empathielosigkeit zu erkennen und gegenzusteuern, und zwar in allen Teilbereichen unserer Gesellschaft. Wir müssen gemeinsam einen Wertekonsens wiederfinden, sprich eine digitale Ethik, um Gemeinschaft, Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit gerade in sozialen Netzwerken wachsen zu lassen.
Frank Thissen: Die Schule ist wie andere Institutionen ein System, dessen Hauptaktivität seine eigene Stabilisierung ist. Das macht grundlegende Veränderungen zunächst einmal schwierig. Zudem haben wir seit über 150 Jahren eine Vorstellung davon, wie Schule sein sollte, sodass wir uns gar nicht vorstellen können, dass sie auch ganz anders aussehen könnte, in Bezug auf das Gebäude, die Lernmethoden, den Einsatz von Technologien und vieles andere mehr.
Ein weiterer Hemmschuh ist die Lehrer:innen­ausbildung, die in vielen Bereichen immer noch sehr traditionell daherkommt und zu größten Teilen aus Vorlesungen und Seminaren besteht.
Es braucht schwierige Situationen, wie zum Beispiel die COVID-19-Pandemie, in denen Systeme ins Wanken geraten und so radikale Veränderungen möglich werden. Kurt Lewin nennt dies das „Unfreezing“, eine Phase der Veränderung, in der alte Strukturen aufgebrochen werden. In diesem Sinne sind solche Krisen immer auch eine Chance und es wäre äußerst problematisch, nach der Pandemie wieder so weiterzumachen, wie man vor der Pandemie Schule gestaltet hat.

Was beim DigitalPakt 2.0 besser werden muss

In einigen Äußerungen wurden bereits erste Forderungen und Wünsche vernehmbar, die ggfs. ein DigitalPakt 2.0 berücksichtigen sollte. Was kann Deutschland beim DigitalPakt 2.0 besser machen?
Silke Müller: Ganz einfach: Das Geld entfristen, direkt den Schulträgern zur Verfügung stellen und los geht's. Was es bräuchte, ist dringend eine Entfristung des DigitalPaktes und nicht die Diskussion über einen Pakt 2.0. Digitalisierung bringt Investitions- und Folgekosten mit sich. Wir brauchen hier alle Planungssicherheit.
Außerdem gehört das Geld direkt an die Schulen bzw. Schulträger ausgeschüttet, um die Umsetzung agil zu beschleunigen. Gut gemeint ist hier also sprichwörtlich nicht immer gut gemacht. Und ganz ehrlich: Auch hier gewinnen wir an der Basis erneut das Gefühl, dass sich pathetische Ansätze wie „Bildung ist unser höchstes Gut, Kinder sind uns wichtig“ hervorragend für leider ständig und turnusmäßig wechselnde Politik – was in meinen Augen für den Bildungsbereich ganz katastrophal ist – und deren Wahlplakate eignen, ansonsten aber gern in den Hintergrund der Debatte gestellt werden.
Ich persönlich habe schon lange nicht mehr das Gefühl, dass das Bildungssystem höchste Priorität genießt, obwohl es um unsere eigene Zukunft geht. Kinder sind unsere Zukunft.
Jörg Schumacher: Den DigitalPakt 2.0 als Folgeschritt würde ich folgendermaßen fassen: von der Digitalisierung (DigitalPakt 1.0) zur Digitalität, der in der schulischen Praxis gelebten „digitalen Lernkultur“ (DigitalPakt 2.0).
Ging es im Schritt 1.0 vor allem um Infrastrukturen und erste Praxis, sollte im nächsten Schritt der Akzent auf die pädagogische Praxis der Medienintegration, der konsequenten Nutzung digitaler Technologien für das Lehren und Lernen gelegt werden.
Einerseits muss der Zugang zu den bereitgestellten Mitteln vereinfacht werden; darüber hinaus muss die pädagogische, medientechnische und technische Unterstützung der Schulen auf breitere Füße gestellt werden. Die Schulen dürfen hier nicht alleine gelassen werden.
 

Herr Schumacher spricht von Unterstützungssystemen für Schulen. Herr Dr. Assman, Herr Prof. Thissen, was kann Deutschland diesbezüglich von anderen Ländern lernen?

Frank Thissen: Auf jeden Fall einen unverkrampften Umgang mit Technologien. Viele Diskussionen, die wir in Deutschland in den letzten 20 Jahren über den Einsatz von Technologien im Unterricht geführt haben, sind beispielsweise in Großbritannien unbekannt. Dort versteht man gar nicht, wo wir Probleme haben. Man sieht dort in Technologien eine Möglichkeit, das Lernen zu unterstützen, und ist sehr pragmatisch im Umgang mit diesen, probiert etwas aus, macht Erfahrungen und probiert Neues.
Zudem gibt es in manchen anderen Ländern wie etwa in Teilen der Schweiz oder in Finnland sehr innovative Schulkonzepte, die auch sehr erfolgreich sind. Daran sollten wir uns orientieren. Man muss nicht immer alles neu erfinden, sondern darf Ideen und gute Konzepte kopieren und dann an eigene Bedarfe anpassen.
Til Assmann: Ganzheitliche Digitalisierung: Infrastruktur, Hardware, digitale Verwaltung (www.e-kool.eu), Lernkonzepte (www.99math.com) und die klassischen Lehrbücher ergänzende und nicht ersetzende digitale Lehrinhalte und Übungen (www.opiq.ee). Dafür ist aber eines die wichtigste Voraussetzung: der Glaube und Wille, es endlich anzupacken. 
Als Zweites kann Estland Vorbild für die Entschlackung und Reduzierung der Entscheidungsebenen in Deutschland sein. Weniger ist mehr: Das Bildungsministerium sollte ein deutschlandweites zentrales Curriculum festlegen sowie zentral zugelassene Lehr­materialien und eine offene Wissensdatenbank zur Verfügung stellen.
Die Verantwortung der Bundesländer sollte darin liegen, diese anzuwenden und es den Schulen zu überlassen, im Wettbewerb zueinander Lehre zu erbringen und dabei frei ihre Finanzmittel einzusetzen. Klingt einfach. Ist es schließlich im Betrieb dann auch.
Grenzen sehe ich bei der Mentalität, die Dinge zu verändern, nach vorne zu bringen, Leistung zu bringen, Wettbewerb unter Schulen zu schaffen und konsequent zu sein. Das fehlt uns in der Breite. Die Esten haben genau damit gezeigt, dass es möglich ist, und beweisen dies mit den besten Plätzen bei PISA. Bei uns gibt es lediglich ein paar Leuchttürme. 
Zudem ist die Frage, ob wir es schaffen, das Schulwesen zu entschlacken und den Föderalismus zu modernisieren. Estland steht mit der Welt im Wettbewerb. Deutschland auch, aber nicht unsere Bundesländer. Also sollten wir neue erfolgversprechende Wege gehen – wie Estland.

„Gemeinsame und positive Vision der Schule der Zukunft“

Erlauben Sie eine letzte Frage: Beim DigitalPakt geht es vor allem um die Beschaffung technischer Geräte. Reicht das, damit unsere Schüler:innen zukunftsfähig sind bzw. werden?

Frank Thissen: Auf gar keinen Fall. Denn die Nutzung von Technologien verändert nicht automatisch das Lernen. Was wir brauchen, sind Schulen, in denen sich Kinder und Jugendliche Herausforderungen stellen und diese gemeinsam meistern. Dabei lernen sie sich und ihre Stärken und Schwächen kennen und bekommen durch die Gruppe hilfreiches Feedback. Sie erlernen in projektorientierten Szenarien den Umgang mit Komplexität und entwickeln Strategien, um große Probleme und Fragestellungen angehen zu können. 
Konzepte verstehen, Zusammenhänge sehen und den Sinn im Tun in der Schule wahrzunehmen sind die entscheidenden Lernerfolge. Und dazu bedarf es im traditionellen Schulsystem auch vieler Rahmenbedingungen wie anderer Lernräume und -orte und vor allem auch anderer Rollen.
Jörg Schumacher: Wie bereits erläutert, ging es beim DigitalPakt 1.0 vor allem um technische Infrastruktur wie die Breitbandanbindung, schulische Netzwerke, WLAN, Endgeräte, Präsentationstechnik oder Unterstützungsangebote. Diese sind Voraussetzung der gelebten Digitalität.
Auch besitzen diese Technologien eine subversive Kraft: Will man sie konsequent und erfolgreich im schulischen Kontext einsetzen, muss man die alte bestehende „Flurschule“ mit ihren eher tayloristischen Organisationsstrukturen, ihrer räumlichen und zeitlichen Gliederung in eine eher offene und flexibel gestaltete Lernumgebung verwandeln oder gänzlich neu fassen.
Wir benötigen eine gemeinsame und positive Vision der Schule der Zukunft; für die Schule des 21. Jahrhunderts. Das sind nicht nur kleine Verbesserungen der bestehenden Schule.
Silke Müller: Wie gesagt, unser gesellschaftliches Problem ist, dass wir Digitalisierung mit Technisierung gleichsetzen. Dabei geht es um eine Friedens- und Demokratiesicherung im Netz durch einen neuen Wertekonsens für ein Miteinander und für Courage im Netz, also um eine digitale Ethik.
Genauso brauchen die Kinder natürlich auch niederschwellige- IT-Kompetenzen und ein Grundverständnis für Künstliche Intelligenz, die längst schon sozusagen mitten unter uns und damit ein Mitglied unserer Gesellschaft ist. Erst daraus können dann gelingende neue Arbeitsformen in puncto Digitalisierung erwachsen.
Um Gemeinschaft aber wieder spürbar zu machen, braucht es schon jetzt deutlich mehr Arbeitsformen, die auf gemeinschaftliches und teamorientiertes Arbeiten ausgelegt sind, es braucht Demokratieerziehung und Gewissensbildung. Dafür bleibt angesichts der Tragik und der Tragödie, die sich in unserer gesellschaftlichen Entwicklung zum Negativen abspielt, keine Zeit. Wir müssen jetzt anfangen, für uns und für die Generation unserer Kinder umzudenken. An dieser Stelle sollte Verwaltung und Politik uns dienen und nicht noch durch bürokratische Hürden hemmen.


Literatur
BMBF (2022). Stark-Watzinger/Prien: Weitere Beschleunigung des Digitalpakts nötig
www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/pressemitteilungen/de/2022/02/040322-digitalpakt.html
Bündnis für Bildung e.V.: DigitalPakt 2.0 besser machen, www.bfb.org/post/digitalpakt-2-0-besser-machen
Rhode, D., Wrase (2022). Die Umsetzung des DigitalPakts Schule: Perspektiven der schulischen Praxis auf zentrale Steuerungsfragen und -herausforderungen. Hildesheim/Berlin. www.uni-hildesheim.de/media/fb1/sozialpaedagogik/Forschung/Umsetzung_des_Digitalpakts_Schule/Projektbericht_DigitalPakt_final.pdf
 

Quelle: bildung+ schule digital 2-2022

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