Wie lassen sich Aufgaben bewerten, in denen ein Text inszeniert werden soll? Die Antwort auf diese Frage setzt die auf John Dewey zurückgehende Unterscheidung zwischen primären und sekundären Erfahrungen voraus. Das inszenierende Lesen beispielsweise (s. Beiträge von Krieger und Mayer in diesem Heft) braucht primäre Lernerfahrungen: Ein Text wird als Live-Hörspiel aufgeführt, eine Gruppe entwickelt eine pantomimische Umsetzung zu einem vorgelesenen Text, studiert einen Monolog als chorische Sprechperformanz ein etc. Diese und andere Formen des inszenierenden Lesens beruhen auf der Bereitschaft zum theatralen Experiment, was einen angstfreien Raum voraussetzt, der jede Form der Leistungsbewertung ausschließt. Für inszenierende Primärerfahrungen im Unterricht sollte aus meiner Sicht daher prinzipiell gelten: Theatrale Spiel- und Präsentationssituationen werden weder zur Bewertung noch zur Benotung herangezogen. Damit nun aber das, was im inszenierenden Experiment ausprobiert und erkundet wurde, in bewusste Lernprozesse überführt werden kann, bedarf es zusätzlich sekundärer Lernerfahrungen, das heißt der Reflexion der experimentell gemachten Beobachtungen. Dazu eignen sich anschließende Gesprächsphasen. Diese können dann zum Ausgangspunkt von Transferaufgaben werden, die kriteriengeleitet bewertet und benotet werden können. Folgende Aufgabenstellungen sind dafür geeignet:
A) Sprechpartitur und Kommentar
Ein Text wird für eine Hörspielfassung eingerichtet, indem die Sprechgestaltungen der einzelnen Repliken (= Äußerungen der Personen auf der Bühne) stichwortartig charakterisiert werden. Orientiert werden kann sich dabei an der Unterscheidung zwischen Sprechformen (flüsternd, stockend, laut etc.), -stimmungen (ängstlich, überrascht, erleichtert etc.) und -haltungen (drohend, höflich, bewundernd etc.). In einem erläuternden Kommentar können Gestaltungshinweise textbezogen begründet werden (Lösener 2017, 58).
B) Regiebuch mit Kommentar
Es wird ähnlich wie bei der Sprechpartitur verfahren, allerdings werden zusätzlich Körperhaltungen und Bewegungen in die Beschreibung aufgenommen. Der Kommentar dient der Erläuterung der Inszenierungsideen (siehe AB 1).
C) Arbeit mit Untertexten
Bei dieser auf Konstantin S. Stanislawski zurückgehenden Schreibform werden die Äußerungen der Figuren mit „Denkblasen“ versehen, in denen notiert wird, was die Personen denken könnten, während sie etwas sagen oder tun (Frommer 1995, 75). Auch hier bietet sich ein ergänzender Kommentar an.
D) Positiogramm mit Kommentar
Das Positiogramm stellt eine Art Landkarte für die Positionen und Bewegungen der Personen dar und gibt die Bühne in einer Draufsicht von oben wieder (Lösener 2009, 68). Diese Aufgabe bietet sich an, wenn mehr als zwei Personen in der Szene auftreten. Im Kommentar wird die Bewegungschoreografie für die Szene begründet.
Jede dieser Aufgabenformen beruht auf dem Prinzip der mentalen Inszenierung: Ein gelesener Text wird als theatrale Szene imaginiert (Lösener 2017, 35). Grundlegend dafür ist die Annahme, dass es im Text Inszenierungshinweise gibt, welche beim Lesen eine Art „Theater im Kopf“ entstehen lassen. So erhält etwa der Satz „Das dürfen Sie nicht!“, der auf viele verschiedene Arten gesprochen werden könnte (aggressiv, empört, tadelnd, vorsichtig, enttäuscht etc.), in der Park-Szene aus Brechts Der gute Mensch von Sezuan (siehe AB 1 ) einen eigenen Spielwert. Denn er wird von Shen Te geäußert, die den lebensmüden Sun von seinem Vorhaben, sich zu erhängen, abzuhalten sucht. Um Spielwerte im Text zu ermitteln, muss jeder Satz aus seinem dialogischen und szenischen Kontext heraus als Spiel- und Sprechhandlung verstanden werden. Dabei geht es immer wieder um zwei Fragen: Wie wird etwas gesprochen oder gespielt? Und: Welche Wirkung entsteht durch die Sprech- und…