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Radikalisiert die Digitalisierung die moderne Gesellschaft?

„Digitalisierung“ ist in aller Munde – auch in Bezug auf Schulen. Sie kann als die Radikalisierung einer für moderne Gesellschaften typischen Entwicklung beschrieben werden, die Prof. Dr. Rucker als Freisetzung von Komplexität bezeichnet.

Das Universum mit digitalen Akzenten
Komplexe Problemstellungen besitzen keine Regeln, die störungsfrei zur schnellen Lösung eingesetzt werden können. Foto: geralt/Pixabay

Digitalisierung

Ist heute in der Öffentlichkeit von „Digitalisierung“ die Rede, so ist damit ein gesellschaftlicher Transformationsprozess angesprochen, der mit der Ausweitung des Einsatzes digitaler Technik verbunden ist. Wie aber ist dieser Prozess näher zu bestimmen? Möchte man die Frage klären, wie ein Unterricht an der öffentlichen Schule gedacht werden kann, der den Herausforderungen Rechnung trägt, die mit dem Aufwachsen in einer digitalen Welt einhergehen, so muss man sich zunächst Klarheit darüber verschaffen, worin der besagte Transformationsprozess besteht.

Im Folgenden möchte ich eine Facette der Digitalisierung in den Mittelpunkt der Überlegungen rücken, die in der aktuellen (schul-)pädagogischen Debatte weitgehend unterbelichtet ist. Hierzu knüpfe ich an Arbeiten Felix Stalders an, in denen die Verbindung zwischen dem vermehrten Einsatz digitaler Technik einerseits und Fragen der Werteorientierung andererseits untersucht wird (vgl. Stalder 2017). Stalder macht darauf aufmerksam, dass Menschen im Zuge der Digitalisierung in immer mehr Bereichen an der öffentlichen Auseinandersetzung über Wertfragen partizipieren. In diesem Umstand sieht Stalder das Spezifikum einer Kultur der Digitalität. Kulturelle Fragen sind nach Stalder Wertfragen, die letztlich um ein Grundproblem kreisen, das in der Frage zum Ausdruck kommt: „Wie wollen wir eigentlich leben und zusammenleben?“. Antworten auf Wertfragen bringen die Werteorientierung von Menschen zum Ausdruck, d. h. ihre Auffassungen darüber, was im Leben und Zusammenleben vorgezogen bzw. zurückgestellt werden sollte. Dabei sind die Antworten auf Wertfragen notorisch umstritten. Konsense sind immer nur partiell und allenfalls vorläufig stabil. Dies ist freilich nicht neu. Neu ist hingegen, dass Menschen heute mit einer kaum mehr überschaubaren Menge an Themen und Standpunkten konfrontiert sind, was damit zu tun hat, dass immer mehr Personen auf immer mehr Feldern ihren Werturteilen öffentlich Ausdruck verleihen. Die Voraussetzung dafür, dass dies überhaupt möglich ist, ist eine entsprechende Technik.

Stalder macht explizit darauf aufmerksam, dass die Digitaltechnik die Kultur der Digitalität nicht hervorbringt. Sie verhilft stattdessen bestimmten, bereits seit längerer Zeit zu beobachtenden, gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu einer Dominanz, die diese ohne digitale Technik wohl nie erlangt hätten.

Es ist Stalder darin zuzustimmen, dass die von ihm beschriebenen Entwicklungen als Prozesse aufzufassen sind, welche „die Komplexität der Gesellschaft erhöhen und neue Verfahren des Umgangs mit dieser Komplexität erfordern“ (Stalder 2018, S. 8). Wir haben es gleichsam mit einer „IT-unterstützten Komplexitätssteigerung“ zu tun (ebd.). Ich möchte diesen Hinweis aufgreifen und die von Stalder beschriebene Entwicklung einer Kultur der Digitalität im Folgenden als eine durch Digitaltechnik unterstützte Radikalisierung eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses deuten, den wir im abendländisch-europäischen Kontext spätestens seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert beobachten können und den ich als Freisetzung von Komplexität bezeichne (vgl. Rucker/Anhalt 2017, S. 13 ff.). Daraus folgt: Möchte man klären, was die Herausforderungen sind, vor denen Unterricht im digitalen Zeitalter steht, und wie diese bewältigt werden können, so wird man nicht umhinkommen, zu klären, was es mit Komplexität auf sich hat.

Komplexität

Einfache und komplizierte Problemstellungen unterscheiden sich von komplexen Problemstellungen dadurch, das Regeln bekannt sind, um ein gegebenes Problem erwartbar erfolgreich zu lösen. Im Falle von einfachen Problemstellungen können die zur Problemlösung erforderlichen Regeln störungsfrei eingesetzt werden. Im Falle von komplizierten Problemstellungen ist der störungsfreie Einsatz von Regeln hingegen nicht möglich, was z. B. daran liegen kann, dass eine Person die entsprechenden Regeln nicht kennt. In diesem Sinne mag sich ein bestimmtes Problem für Expertinnen und Experten als einfach, für Laien hingegen als kompliziert darstellen. Im Unterschied hierzu zeichnen sich komplexe Problemstellungen dadurch aus, dass keine Regeln bekannt sind, die es erlauben würden, ein gegebenes Problem erwartbar erfolgreich zu lösen. Dies gilt – und das ist hier entscheidend – auch auf der Seite der Expertinnen und Experten.

Von einer komplexen Problemstellung wäre zu sprechen, wenn bestimmte Fragen in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden, ohne dass es eine Regel gibt, die es erlauben würde, eine Position für allgemeinverbindlich zu erklären. Moderne Gesellschaften kennen komplexe Problemstellungen in diesem Sinne zu Genüge – Problemstellungen, die in einem Wechselspiel von Perspektiven bearbeitet und zu lösen versucht werden, ohne dass eine Perspektive allgemeine Akzeptanz für sich beanspruchen könnte. Man denke hier nur an allzu bekannte Beispiele: Wie lösen wir die Finanzkrise in Europa? Wie gehen wir mit den aktuellen Migrationsströmen um? Wie sollen wir uns gegenüber antiaufklärerischen Tendenzen in unserer Gesellschaft verhalten?

An dieser Stelle gilt es, eine wichtige Einsicht festzuhalten: Der Begriff der Komplexität bringt eine Konstellation in den Blick, die für die meisten Fragen, die wir heute im Zuge der Digitalisierung diskutieren, maßgeblich sein dürfte. Wie wir beispielsweise politisch, wirtschaftlich und moralisch mit einer zukünftig zu erwartenden Massenarbeitslosigkeit umgehen, wird unter den Bedingungen einer Pluralität von Werteorientierungen verhandelt – einer Pluralität, die im Zuge der Digitalisierung weiter zunehmen dürfte. Kurzum: Digitalisierung avanciert unter den Bedingungen der Digitalisierung zum Thema. Aus pädagogischer Perspektive stellt sich nun die Frage, wie Unterricht an der öffentlichen Schule so konzipiert werden kann, dass der Einzelne unter diesen Bedingungen auf seiner Suche nach Orientierung Unterstützung erfährt.

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