Christine Hut
Das Vermittlungskonzept der jüngsten documenta
„Erwartet keine Lektionen, sondern sucht die Widersprüche“ (Georgsdorf / Szymczyk / Angiama 2017, S. 4), sagte Adam Szymczyk, der künstlerische Leiter der documenta 14 im Vorfeld der Großaussstellung. Doch konnten Kunstvermittler und Besucher seinem Rat folgen? Haben wir verstanden, was er meinte, wenn er von „Verlernen“, „Von Athen lernen“ und von „Erfahrung“ sprach? Haben wir Wissen hinzugewonnen oder es in den weiten Hallen des Fridericianums und in den Straßen Kassels verloren?
Als sich der Vorhang zur documenta 14 öffnete, offenbarte Adam Szymczyk sein visionäres Vermittlungskonzept: Die Besucher sollten befreit werden von ihrem Ballast an Wissen, der einer persönlichen Erfahrung von Kunst im Wege stehe. Nicht nur die subjektive Wahrnehmung bekannter Werke, so seine These, sei von unserer Voreingenommenheit bestimmt. Auch falle es uns schwer, unbekannte Kunst der Gegenwart anders zu sehen, als wir gelernt haben; sie nicht auf unsere unmittelbare Lebenswelt zu beziehen. All das, was wir über Kunst wissen, alle Künstler und Werke, die uns vertraut sind, sollten nun durch einen Prozess der „aneducation“ zurückgelassen werden. Ob sich Szymczyk einen Gefallen getan hat, indem er diesen Neologismus mit „Verlernen“ übersetzen ließ? Zumindest hat es zu Verwirrung in der medialen Öffentlichkeit geführt und kam seinem eigentlichen Anliegen nicht nahe. Die Komponente „an“ offenbart, dass es nicht um einen Verlust von spezifischem Wissen geht, wie es das „Verlernen“ impliziert – ein Verlust, der angesichts unserer kognitiven Fähigkeiten auch durch die kompetentesten Kunstvermittler nicht zu leisten wäre. Im Gegenteil: Die documenta 14 sollte ihre Besucher dazu anregen, „von etwas weg“, „von etwas aus“ zu lernen.
Lernen durch Perspektivwechsel
Bereits Vermittlungskonzepte vorangegangener documenta-Ausstellungen legten Wert darauf, dem Besucher zu zeigen, dass seine Auseinandersetzung mit dem Werk Teil des Werks wird, er ebenso produziert wie rezipiert. Auch Szymczyk wollte dieses Verständnis bei den Besuchern prägen. Denn für ihn ist „das ‚Verlernen‘ […] eine Voraussetzung, um auch nur irgendeinen Schritt machen zu können“ (Georgsdorf / Szymczyk / Angiama 2017, S. 4). Doch den Betrachtern, beladen mit all ihrem Wissen, das ihnen einen freien Blick auf die Kunst versperre, bliebe eine solche Erfahrung verwehrt – so seine These. Die „aneducation“ beinhaltet deshalb in ihrer didaktischen Konsequenz das Erkennen unserer lebensweltlich vorgeprägten Rezeptionsmuster: ein ernsthafter Perspektivwechsel, durch den wir zumindest für den Moment unser bisheriges Wissen hinter uns lassen könnten. Durch diese Erfahrung sollten wir lernen (!), den Nutzen und das Ausnutzen von Wissen in unserer heutigen Gesellschaft überhaupt zu erkennen.
Szymczyk fragte: „Was ist der Nutzen von Wissen? […] Wie können wir die Symmetrie von Wissen und Macht hinterfragen?“ So war es seine Intention, unser Bewusstsein und unsere Sehnsucht zu schärfen, den Wert alter Wissensschätze zu erkennen, „[…] die übergangen, gewaltsam beseitigt und weitestgehend vergessen wurden“ (Georgsdorf / Szymczyk / Angiama 2017, S. 4). In die Kunst übertragen, sollten ihre erlern- und erfahrbaren Inhalte geweckt und entdeckt werden. Aboubakar Fofanas Handwerkskunst mit Indigofarben, Beau Dicks ethnologisierende Masken, Olaf Holzapfels „Trassen“ – lernten wir hier nicht etwas über traditionelle Handwerkstechniken und ihren künstlerischen Wert in einer verlernenden Welt? Rebecca Belmores Flüchtlingszelt aus Marmor und Hiwa K.‘s „Wohnrohre“ – konfrontierten uns die Werke nicht mit der historischen Endgültigkeit der heutigen Politik? Abel Rodríguez Naturzyklen, Edi Hilas Boulevard, Nilima Sheikhs Bildinstallationen oder Miriam Cahns Suche nach dem Menschlichen im Bild – angesichts ihrer Künstler, Werke und Themen erschien die documenta 14 eher als bleibender Lernort.
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- Thema: Zeitgenössische Kunst, Methodik + Didaktik
- Autor/in: Christine Hut