Judith Hilmes | Fritz Seydel
Wahrnehmen, Steuern, Bewerten
Muss man im Kunstunterricht überhaupt über Differenzierung sprechen? Wie in keinem anderen Fach haben die Schülerinnen und Schüler hier Gestaltungsspielräume und persönliche Freiheiten. Doch damit Schülerinnen und Schüler im Kunstunterricht das lernen können, was ihren Möglichkeiten entspricht, ist ein Eingehen auf sehr unterschiedliche Lernvoraussetzungen erforderlich. Deshalb ist es lohnend, für das Fach Kunst das Verständnis für Differenzierung im Unterricht zu klären.
In einem Fach, das so wenig unterrichtet wird wie Kunst, wirken die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden oft mehr als in manch anderen Fächern – und das die ganze Schulzeit hindurch. Die Möglichkeiten, im Fach Kunst curricular systematisch Wissen und Fertigkeiten aufzubauen, sind begrenzt. Das heißt, in der Regel sind das Handlungswissen und Gestaltungsvermögen der Schüler innerhalb einer Lerngruppe auch (und gerade) noch am Ende der Sekundarstufe I extrem unterschiedlich – quer durch alle Schularten. Faktoren dafür sind u. A.:
- unterschiedliche Wahrnehmungsintensität,
- unterschiedliches Vorstellungs- und Abstraktionsvermögen,
- unterschiedliche Geschicklichkeit in der Feinmotorik,
- unterschiedliche Arbeitsgeschwindigkeit,
- ausdauerndes oder flüchtiges Arbeiten,
- Jungen- oder Mädchen-Sozialisation,
- handwerkliche Erfahrung und Erfahrung mit verschiedenen bildnerischen Verfahren,
- Kunstnähe oder Kunstferne im Elternhaus,
- fachsprachliche Voraussetzungen,
- soziale und emotionale Verfasstheit,
- unterschiedliche Lerngeschichte.
Inwieweit derlei Lernvoraussetzungen auf aisthetischer Wahrnehmungssensibilität, Vorstellungskraft und ästhetischem Gestaltungsvermögen basieren und damit auf unterschiedlicher „Begabung“ (vgl. Miller 2018) oder kreativer „Intelligenz“ (Felten / Stern 2012, S. 61 ff.), d. h. auf unterschiedlichen genetisch bedingten Voraussetzungen, kann hier nicht diskutiert werden.
In der Sekundarstufe II fallen die Lernvoraussetzungen noch einmal mehr auseinander: hinsichtlich Wissen und Können, eigener Kunsterfahrungen, innerer Bildvorräte zur Kunst, eigener Anliegen in der Kunst, hinsichtlich der Vielfalt der Interessen. Zudem schlagen hier die Folgen eines sehr unterschiedlichen Kunstunterrichts in den Vorjahren durch. Es mag Beispiele für relativ homogene Lerngruppen geben, etwa in einem Kunstleistungskurs in einem Gymnasium mit musisch-kulturellem Profil. Typisch sind diese allerdings für die Realität von Kunstunterricht auch am Gymnasium nicht.
Das Bild vom „homogenen“ Oberstufenkurs halten wir für eine Fiktion. Auf Homogenität kann man hier höchstens hinsichtlich der Angepasstheit an schulische Abläufe setzen. Hinsichtlich des fachlichen Interesses und der fachlichen Lernvoraussetzungen haben wir es eher mit besonders heterogenen Lerngruppen zu tun. Das zeigt auch ein Unterrichtsbeispiel aus einer 11. Jahrgangsstufe in diesem Heft (Beitrag Zumbansen).
Auch die Motivation für einen Kunstleistungskurs ist sehr unterschiedlich: Hier sitzt die Schülerin mit künstlerischer Gestaltungsintention neben dem Schüler, der sich für Kunst als Allgemeinbildung rezeptiv interessiert und dem, der sich für das Fach in Negativauswahl entschieden hat und sich hier die vermeintlich günstigeren Bedingungen zum Punktesammeln erhofft.
Wir wollen die Möglichkeiten der Differenzierung im Fach Kunst durch alle Schulstufen und alle Schulformen hindurch an Unterrichtsbeispielen aufarbeiten, in denen zum Themenfeld Katze und / oder Hund gearbeitet wird (s. Einführungsbeitrag II).
Was verstehen wir unter Differenzierung im Unterricht?
Der Herausgeber und die Herausgeberinnen des Heftes gehen von folgender These aus: Im Unterricht differenzieren sich die Lernwege der Schüler grundsätzlich, weil es keine durchgängig homogenen Lerngruppen gibt, denn das wären Lerngruppen „Gleichgeschalteter“ (vgl. Buholzer / Kummer-Wyss 2010) (Abb. 1 ). Andererseits heißt das nicht,...
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Fakten zum Artikel
- Thema: Methodik + Didaktik
- Autor/in: Judith Hilmes, Fritz Seydel