Steffen Barth / Dietmar von Reeken
Leben in einer Zeit der Umbrüche
Vor wenigen Jahren, genauer im April 2015, wurde in Wilhelmshaven ein neues Denkmal für Reichskanzler Otto von Bismarck eingeweiht. Zwar sind viele Städte und Landschaften in Deutschland mit Bismarck-Denkmälern, Bismarck-Türmen, Bismarck-Straßen usw. versehen – aber fast alle von ihnen stammen aus der Zeit des Kaiserreichs selbst, waren ein Ausdruck einer zeitgenössischen Bismarck-Verehrung (vgl. etwa die Übersicht auf: http://bismarckierung.de/). Warum aber errichtet man fast hundert Jahre nach dem Ende der politischen Schöpfung Bismarcks noch ein Denkmal für den „Reichsgründer“? Vor Ort war dies wohl eine Mischung aus unterschiedlichen Motiven: die Wiederherstellung eines früheren Zustandes des „Bismarckplatzes“ mit einem entsprechenden Denkmal, ein Bekenntnis zur Geschichte der Stadt, die im Kaiserreich als „Reichskriegshafen“ einen erheblichen Aufschwung erfahren hatte, bei manchen aber auch eine Ehrung eines „großen Deutschen“. Diese Ehrung aber war vor Ort, dies ist nicht überraschend, höchst umstritten, und die feierliche Einweihung daher auch von Protesten begleitet, bei denen deutlich wurde, dass die Beurteilung Bismarcks in der örtlichen Bevölkerung und der Kommunalpolitik sehr unterschiedlich ausfiel.
Man könnte dies als lokale Kuriosität ansehen – aber ganz ungewöhnlich ist der Fall ja nicht, wie man an der national deutlich stärker wahrgenommenen „Rückkehr“ Kaiser Wilhelms I. auf „seinen“ Denkmalssockel am Deutschen Eck 1993, also viele Jahrzehnte nach seiner Regierungszeit, erkennen kann. Dass solche Projekte nur vereinzelt vorkamen, dass sie gleichwohl erfolgreich waren und dass sie von Protesten begleitet wurden – alles dies deutet darauf hin, dass die deutsche Geschichtskultur so ihre Probleme mit der Beurteilung des Kaiserreichs und seiner Protagonisten hatte und hat. Während das historisch-politische und moralische Urteil über die NS-Zeit (außerhalb rechtsradikaler Kreise) eindeutig negativ ist und die Weimarer Republik als erste deutsche Demokratie grundsätzlich – trotz aller Fehler und Probleme – positiv bewertet und ihre Zerstörung daher verurteilt wird, ist das gesellschaftliche Urteil über das Kaiserreich viel unklarer und änderte sich im Laufe des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts auch immer wieder.
Das Kaiserreich im Urteil der Nachwelt – geschichtskulturelle Perspektiven
Auch wenn das „Nachleben“ des Kaiserreichs in den letzten hundert Jahren bislang nur ansatzweise erforscht ist – deutlich ist, dass seine Wahrnehmung in hohem Maße durch aktuelle politische Einschätzungen und Überzeugungen geprägt war und ist.
In der Weimarer Republik war die Erinnerung an das Kaiserreich gespalten: In konservativen Kreisen dominierte eine Verklärung des durch Kriegsniederlage und Revolution untergegangenen Reiches, häufig verbunden mit dem Wunsch nach Wiederherstellung der Monarchie, was zur Delegitimierung der neuen Demokratie beitrug. Im linksrepublikanischen Spektrum dagegen wurde die Überwindung als Fortschritt gedeutet, das Bild des Kaiserreichs war daher deutlich negativer, positive historische Anknüpfungen gab es eher bei der gescheiterten Revolution von 1848/49 und in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Eine wirkliche „Aufarbeitung“ der jüngsten Vergangenheit aber fand in den 1920er-Jahren nicht statt, was nicht zuletzt durch den breiten Konsens über die Ablehnung des Kriegsschuldparagraphen im Versailler Vertrag bedingt war – eine zu intensive Beschäftigung mit dem Kaiserreich hätte ja die Gefahr in sich getragen, Urteile des Auslands möglicherweise zu bestätigen. Mit der Eroberung der Macht durch die Nationalsozialisten bemühte sich die Propaganda, Hitler in eine Reihe mit Bismarck und Hindenburg zu stellen. Mit zunehmender Etablierung des NS-Staates und Hitlers als „Führer“ wurde die Bezugnahme auf das Kaiserreich und Bismarck allerdings entbehrlich; die Bezugnahme auf die Monarchie war...
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- Thema: Neue & Neueste Geschichte, Methodik & Didaktik
- Autor/in: Steffen Barth / Dietmar von Reeken