Hans-Joachim Glücklich
Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen Methoden, die Vokabellernen mit Lesen, Rezitieren und inhaltlicher Arbeit an Texten verbinden, zum Beispiel Frage- und Antwortspiele zur Übung lateinischer Vokabeln, Formen und Satzmuster oder die Verwendung alltäglicher Gesprächsformeln und Redewendungen.
Vokabeln zu lernen und zu beherrschen ist im Fach Latein mühsamer als in anderen sprachlichen Fächern. Die Ursache ist leicht zu finden: Latein wird nicht gesprochen, Latein wird nicht geschrieben. Es fallen zwei wichtige Aufnahme- und Verarbeitungskanäle fast vollkommen weg. Lateinschreiben ist verschwunden. In Zeiten, da es noch keine Vervielfältigungsmöglichkeiten gab, also bis in die späten fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, wurde der Text lateinischer Klassenarbeiten im Anfangsunterricht noch diktiert. Der Schüler musste die Wörter im Kopf haben und ihr Schriftbild kennen.
Auch gelesen wird Latein kaum, denn noch oft wird auf schnelles Übersetzen gedrängt und spielt die Übersetzungsleistung eine sehr große Rolle bei der Bewertung von Klassenarbeiten und damit bei der Notenfindung überhaupt. Durch das Übersetzen wird trotz gegenteiliger Absicht nicht immer gutes Deutsch vermittelt.
Das größte Problem für die Beherrschung der lateinischen Sprache ist dabei: Beim Übersetzen wird der lateinische Text gegen ein deutsches Surrogat ausgetauscht, das wenig von der Fülle, Schönheit und Vitalität des Lateinischen wiedergibt und den Blick vom Latein aufs Deutsche richtet; daher ist selbst bei der Besprechung der Texte kaum eine Möglichkeit geboten, lateinische Wörter im Munde zu führen und im Kopf zu verankern. Oft bleibt dann für die Wortschatzarbeit nur das sogenannte „Pauken“ übrig. Das fällt jüngeren Schülern meist leichter als älteren, wie schon Quintilian gewusst hat. In seiner Institutio oratoria 1, 12, 10 sagt er, dass man in jungen Jahren besser Arbeit aushält, als wenn man herangewachsen ist: et patientior est labōris nātūra puerīs quam iuvenibus.
Die Vokabeln werden nur wieder beim Lesen oder „Knacken“ von Texten angewendet. Sie werden nicht gesprochen, sie werden nicht in selbstverfassten Texten verwendet, sie werden nicht in Reden, Dialogen, alltäglichem Sprechen angewendet. Der Lernaufwand ist gewaltig und führt erfahrungsgemäß bei vielen Schülern nicht zum Ziel, oder sie geben vorzeitig auf.
Gerade beim Vokabellernen merken die Schüler, welche Grundbedeutung das Wort labor hat: Es kommt von labāre! Man bricht unter der aufgelegten Last zusammen und sinkt zu Boden.
Aktiver, passiver, potenzieller Wortschatz
Mirjam Daum1 macht, aufbauend auf vielen Vorgängern, deutlich, welche drei Arten von Wortschatz oder Wortschatzbeherrschung es geben kann: „Der vom Subjekt beherrschte Wortschatz kann in drei Bereiche gegliedert werden, welche den aktiven, den passiven und den potenziellen Wortschatz umfassen.“
- Aktiver Wortschatz wird von ihr so definiert: „Mit dem aktiven Wortschatz sind die Wörter gemeint, welche das Subjekt in einer produktiven Situation wie Sprechen oder Schreiben verwenden kann.“
- Passiver Wortschatz: „Als passiven Wortschatz bezeichnet man die Wörter, welche das Subjekt in einer rezeptiven Situation wie Hören oder Lesen verstehen kann, sodass er oftmals durch Hilfestellungen in Form von Kontexthinweisen größer ist als der aktive.“
- Potenzieller Wortschatz: „Der potenzielle Wortschatz umfasst alle Wörter, die zwar nicht gelernt wurden, jedoch aufgrund von Derivations- und Kompositionsprozessen vom Subjekt erschließbar sind.“
Daum führt aus, dass im Lateinunterricht vor allem der passive und der potenzielle Wortschatz von Bedeutung sind, weil „die Sprachproduktion im Lateinunterricht weitestgehend entfällt“. Darin aber liegt die Crux. Denn es kann kaum einen passiven oder potenziellen Wortschatz geben, wenn man nicht auf einer soliden Basis aktiv beherrschter Wörter aufbauen kann. Zudem erleichtert ein aktiver Wortschatz den Zugang zu den Texten...
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- Thema: Wortschatz & Grammatik
- Autor/in: Hans-Joachim Glücklich