Marianne Weis
Einen Ernährungstrend bewerten
Die glutenfreie Ernährung ist ein aktueller Trend, besonders bei Jugendlichen und häufig bei völliger Beschwerdefreiheit. Doch ist der Verzicht auf Gluten sinnvoll? Während bei der Autoimmunkrankheit Zöliakie der lebenslange Gluten-Verzicht medizinisch zwingend notwendig ist, ist es für Gesunde nicht nur ohne jeden Nutzen, sondern kann sogar nachteilig sein.
Der Verzicht auf bestimmte Inhaltsstoffe von Lebensmitteln ist einer der Trends im Ernährungsverhalten deutscher Verbraucher. Einer Studie der Techniker Krankenkasse zufolge gaben 2016 etwa 7 %%& der Menschen in Deutschland an, keinen Milchzucker zu vertragen, etwa doppelt so viele wie 2013. Besonders ausgeprägt war der Trend in der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen (TK-Studie 2017). Glutenfrei ernähren sich nach eigenen Angaben etwa 7 % der deutschen Verbraucher, bei den 16- bis 24-Jährigen sind es sogar rund 10 % (Mintel 2016). Demgegenüber liegt die Prävalenz der auf Glutenintoleranz beruhenden Zöliakie bei nur etwa 0,5 – 1 % (Schuppan/Zimmer 2013), bei Kindern und Jugendlichen werden rund 0,9 % angegeben (Laass u. a. 2015). Material 1 zeigt die relativ großen Unterschiede zwischen Selbsteinschätzung und Expertenmeinung. Dass auch Gesunde auf bestimmte Inhaltsstoffe von Lebensmitteln verzichten, kann eine Form der individualisierten Ernährung/extremer Diätformen (z. B. die Paläo-Diät) sein. Möglicherweise sind auch die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen einer Zöliakie die Ursache dafür, dass Gesunde prophylaktisch auf Gluten verzichten. Dazu kommt, dass bestimmte Internetseiten oder Ernährungsratgeber vor Gluten als gefährlichen Inhaltsstoff warnen, der nicht nur zu Übergewicht, sondern auch zu neurologischen Beeinträchtigungen führen würde. Beides ist wissenschaftlich nicht haltbar.
Gluten- und Getreideunverträglichkeiten
Die Zöliakie (einheimische Sprue) ist eine chronische, entzündliche Autoimmunerkrankung des Dünndarms, die durch glutenhaltige Nahrungsmittel (Getreide: Weizen, Roggen, Gerste, Dinkel) bei genetisch disponierten Personen ausgelöst wird. Die Immunreaktion führt zu einer Zerstörung der Zellen des Dünndarms mit Atrophie der Dünndarmzotten (Abb. 2 in Material 2 ) und Symptomen wie schwerer Diarrhö, Malabsorption und verzögertem Wachstum im Kindesalter. Die Krankheit ist nicht heilbar, Patienten müssen lebenslang eine glutenfreie Diät einhalten. Unbehandelt haben Zöliakie-Patienten ein erhöhtes Darmkrebsrisiko. Ob neben der Zöliakie eine Glutensensitivität oder Gluten-unabhängige Weizensensitivität existieren, wird derzeit kontrovers diskutiert.
Krankheitsbild und Diagnose
Das Krankheitsbild ist heterogen, die Beschwerden – Durchfall, Gewichtsverlust, Müdigkeit, Anämie (Blässe) – oft unspezifisch (Leffler/Green/Fasano 2015). Eine Zöliakie gilt als gesichert, wenn bei Glutenbelastung spezifische Transglutaminase-Antikörper nachweisbar sind, eine Dünndarmbiopsie die Atrophie der Dünndarmzotten zeigt und bei Glutenkarenz sowohl Antikörpertiter als auch Symptome zurückgehen. Bei Kindern gilt ein erneuter Wachstumsschub bei Umstellung auf glutenfreie Ernährung als Hinweis auf Zöliakie. Bauchschmerzen oder Unwohlsein nach dem Verzehr glutenhaltiger Nahrung sind kein Beweis für eine Zöliakie. Die Zerstörung des Bürstensaums des Dünndarmepithels kann zu Laktoseintoleranz (Laktasemangel) führen.
Pathogenese der Zöliakie
Die Zöliakie entwickelt sich in einem Zusammenspiel von drei Faktoren: einer genetischen Disposition, dem Auslöser Gliadin (eine Fraktion der Glutenproteine) und einer erhöhten Permeabilität der Dünndarmwand (Fasano 2010; Abb. 1 ). Genetisch für eine Zöliakie disponiert sind Träger der HLA-DQ2 oder der HLA-DQ8-Variante (MHC-II-Klasse-Proteine) (Schuppan/Zimmer 2013). Gliadin wird im Dünndarm lediglich in Peptide zerlegt. Ein α2-gliadin-33mer (Aminosäuren 57–89) gilt als verantwortlich für die Pathogenese der Zöliakie.
Bei Zöliakiepatienten...
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- Thema: Physiologie, Humanbiologie
- Autor/in: Marianne Weis